HERBST - die Zeit tut Wunder


Herbst sagst du
aber ich sage dir
nicht Oktober nicht November
du musst einen neuen Kalender erfinden
ein anderes Alphabet
eine Sprache die Einhalt gebietet
denn die Zeit fällt fällt ins Unabsehbare
und wir fallen mit ihr

- Rose Ausländer




Herbstmanöver

Ich sage nicht: das war gestern. Mit wertlosem
Sommergeld in den Taschen liegen wir wieder
auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit.
Und der Fluchtweg nach Süden kommt uns nicht,
wie den Vögeln, zustatten. Vorüber, am Abend,
ziehen Fischkutter und Gondeln, und manchmal
trifft mich ein Splitter traumsatten Marmors,
wo ich verwundbar bin, durch Schönheit, im Aug.

In den Zeitungen lese ich viel von der Kälte
und ihren Folgen, von Törichten und Toten,
von Vertriebenen, Mördern und Myriaden
von Eisschollen, aber wenig, was mir behagt.
Warum auch? Vor dem Bettler, der mittags kommt,
schlag ich die Tür zu, denn es ist Frieden
und man kann sich den Anblick ersparen, aber nicht
im Regen das freudlose Sterben der Blätter.

Laßt uns eine Reise tun! Laßt uns unter Zypressen
oder auch unter Palmen oder in den Orangenhainen
zu verbilligten Preisen Sonnenuntergänge sehen,
die nicht ihresgleichen haben! Laßt uns die
unbeantworteten Briefe an das Gestern vergessen!
Die Zeit tut Wunder. Kommt sie uns aber unrecht,
mit dem Pochen der Schuld: wir sind nicht zu Hause.
Im Keller des Herzens, schlaflos, finde ich mich wieder
auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit.

- Ingeborg Bachmann


Autumns Day

Rilke walks toward a dime. I saw.
It was very great. But now
His shadow is fast upon the sundials.
How then can the winds remind
The shadows it is late?
„Who has no home cannot build now,“
said Rilke to a grasshopper.
Little grasshopper,
you must waken, read, write long letters, and
wander restlessly when leaves are blown.

- Ron Padgett

Herbsttag

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

- Rainer Maria Rilke


ZitateTanjabachmann, herbst, lyrik