Ein paar hundert Meter landeinwärts auf der Harlow-Seite führten die Gleise der GS&WM direkt in den Wald hinein.

Er hatte Beeren sammeln wollen. Ich glaubte mich zu erinnern, daß es in den Zeitungen hieß, er habe einen Behälter bei sich gehabt, in den er die Beeren tun wollte. Als wir zurückkamen, ging ich in die Bibliothek und schaute in den Zeitungen nach, um mich zu vergewissern, und es stimmte.

Er hatte Beeren gesammelt, und er hatte einen Eimer oder einen Topf gehabt – oder so etwas Ähnliches. Aber wir hatten keinen Eimer gefunden. Wir fanden ihn, und wir fanden seine Turnschuhe. Er mußte den Eimer irgendwo zwischen Chamberlain und dem Morast in Harlow, wo er starb, fortgeworfen haben. Vielleicht hatte er ihn zuerst nur noch fester gepackt, weil er seine letzte Verbindung mit seinem sicheren Zuhause war. Aber als seine Angst wuchs und mit ihr sein Gefühl der Verlassenheit als er merkte, daß niemand ihn retten würde, daß ihm nur noch das blieb, was er selbst tun konnte, als das wirkliche Entsetzen ihn packte, warf er ihn vielleicht in den Wald, entweder nach der einen oder der anderen Seite, und vielleicht merkte er nicht einmal, daß er ihn nun nicht mehr hatte.

Ich habe schon daran gedacht, wieder dorthin zu gehen, um ihn zu suchen. Ist das nicht morbide? Ich habe daran gedacht, in meinem fast neuen Ford-Lieferwagen bis ans Ende der Back Harlow Street zu fahren, ganz allein an einem schönen Sommermorgen. Meine Frau und meine Kinder hätte ich in einer anderen Welt zurückgelassen, wo die Dunkelheit hell wird, wenn man einen Schalter dreht. Ich wäre dann ausgestiegen und hätte mein Bündel vom Rücksitz genommen und mir das Hemd ausgezogen und um die Hüften gebunden. Ich hätte Brust und Schultern mit einem Insektenschutzmittel eingerieben und wäre durch das Unterholz an die sumpfige Stelle gegangen, wo wir ihn damals fanden. Würde das Gras dort in den Umrissen seines Körpers gelb wachsen? Natürlich nicht. Es würde nichts mehr zu sehen sein. Aber dennoch merkt man plötzlich, welche dünne Schicht zwischen dem Autor in seinem normalen Anzug mit den Lederflicken an den Ellenbogen seiner Kordjacke und den dunklen Mythen der Kindheit liegt. Und dann wäre ich auf die Böschung gestiegen, die jetzt von Unkraut überwachsen ist, und wäre langsam in Richtung Chamberlain die rostigen Schienen und verrotteten Schwellen entlanggewandert.

Was für eine blöde Idee! Eine Expedition, um einen zwanzig Jahre alten Eimer für Blaubeeren zu suchen, der wahrscheinlich tief in den Wald hineingeworfen wurde, vielleicht von einem Bulldozer unterpflügt, um Platz für ein Streckenwärterhäuschen zu schaffen, oder von Gras und Brombeeren so überwachsen, daß er nicht mehr zu sehen ist. Aber ich bin überzeugt, daß er dort noch liegt, irgendwo an der schon lange eingestellten Strecke der GS&WM, und manchmal artet der Drang, dort hinzufahren und ihn zu suchen, in Wahn aus. Meistens erlebe ich das am frühen Morgen, wenn meine Frau unter der Dusche steht und die Kinder auf Kanal 38 aus Boston Batman und Scooby-Doo sehen; dann fühle ich am meisten den zwölfjährigen Gordon Lachance nach, der einmal über diese Erde schritt, der ging und sprach und manchmal wie ein Reptil auf dem Bauch kroch. Dieser Junge warst du, sage ich mir. Und dann kommt ein Gedanke, der mich abkühlt wie ein Guß kaltes Wasser: Welchen Jungen meinst du?

Wenn ich dann meinen Tee trinke und die Sonne sehe, die durch das Küchenfenster hereinfällt, und vom einen Ende des Hauses das Fernsehen, vom anderen die Dusche höre und das leichte Klopfen hinten den Augen spüre, das meinen zu hohen Bierkonsum vom Abend vorher anzeigt, dann bin ich sicher, daß ich ihn finden würde.

Ich würde durch die Rostschicht hindurch das helle Metall erkennen, dessen Glanz mir die Sonne in die Augen schickt. Ich würde die Böschung hinunterspringen und das Gras zur Seite schieben, ich würde das Gras, das um seinen Henkel gewachsen ist, lösen, und dann würde ich … was tun? Ich würde ihn einfach aus der Zeit herausnehmen. Ich würde ihn in meinen Händen hin und her drehen, darüber staunen, wie er sich anfühlt, und mich darüber wundern, daß der letzte Mensch, der ihn angefaßt hat, seit zwanzig Jahren in seinem Grab liegt. Und wenn jetzt ein Zettel in dem Eimer liegt? Helft mir, ich bin verloren. Natürlich nicht – Jungen, die ausgehen, Blaubeeren zu suchen, nehmen nicht Zettel und Papier mit – aber nur einmal angenommen. Ich glaube, das Entsetzen, das ich dann empfinden würde, wäre so dunkel wie eine Sonnenfinsternis. Dennoch ist es wohl eher der Gedanke, diesen Eimer in meinen beiden Händen zu halten – der so sehr ein Symbol dafür ist, daß ich noch lebe und er schon tot ist, ein Beweis, daß ich wirklich weiß, welcher Junge es war – welcher von uns fünfen. Ich halte ihn in der Hand.

Und in der dicken Rostschicht und dem verlorenen Glanz lese ich jedes Jahr. Ich fühle ihn und versuche, die Sonne zu begreifen, die auf ihn geschienen hat, den Regen, der auf ihn gefallen ist, und den Schnee, der ihn bedeckte. Und ich frage mich, wo ich war, als ihm all diese Dinge an diesem einsamen Ort geschahen, wo ich war, was ich tat, wen ich liebte, wie es mir ging, wo ich war. Ich halte ihn, ich lese in ihm, ich fühle ihn … und in dem verbliebenen Glanz sehe ich mein eigenes Gesicht.

Aus: FRÜHLING, SOMMER, HERBST und TOD von Stephen King