Die Checkliste der Geheimnisse des Lebens

„Wenn ich euch so sehe, habe ich den Eindruck, es fehlt euch irgendwie an Konzentration. Ihr tretet so oft auf der Stelle. Irgendwie. Dabei wäre es doch viel besser, einfach so drauflos zu leben, denke ich“, fuhr sie fort.

„Sag das doch bitte auch mal Yoshio“, meinte ich.

Darauf fragte sie: “Hältst du es nicht für zu oberflächlich, für eine Binsenweisheit eben, die jeder kennt?“

„Nein, überhaupt nicht. Außerdem: Der Junge will doch gerade, dass du dich um ihn kümmerst!“ sagte ich. „Du bist seine Mutter, und Mütter haben schließlich auch mal ihre guten Gedanken!“

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Mutter lachte, sichtlich stolz, als wollte sie sagen: Natürlich – seh ich vielleicht so aus, als könnte ich nicht bis drei zählen?

Und Mutter verlor keine Zeit, zur Tat zu schreiten.

An jenem Tag kam mein Bruder heim, als wir, Junko, Mutter und ich, schon beim Abendessen saßen. „'n Abend zusammen.“ Mit dem schwarzen Rucksack und der kurzen Hose sieht er endlich wieder wie ein richtiger Grundschüler aus, dachte ich. Außerdem strahlte er ein bisschen. Es schien ihm rundum gutzugehen, man bekam schon Laune, wenn man ihn nur ansah.

Den Blick auf den Fernseher geheftet, saß er da und stopfte sich eine fritierte Garnele nach der anderen in den Mund. Wieder ganz der alte, als ob nie etwas gewesen wäre. Als hielte er heroisch alles von sich fern, was auf ihn einzustürmen und ihn bedrängen wollte – zumindest schien er das zu versuchen.

Da fragte Mutter plötzlich:

„Yoshio, ist das Essen lecker? Schmeckst du auch, was du da isst?“

Verblüfft hörte mein Bruder auf zu kauen und sagte: „Ja, klasse, echt lecker. Hast du die gemacht, Tante Junko?“

„Tja leider voll daneben: Isetan*, Fressabteilung. Ich hab sie da gekauft“, klärte ich ihn auf.

Und Junko fing an, sich grundlos zu rechtfertigen: „Du weißt doch, Fritieren ist das einzige, was ich wirklich nicht kann! Ich hab Angst vor dem heißen Fett und nehme das Zeug meistens schon raus, wenn es noch roh ist. Außerdem hat man danach immer so viel Arbeit mit Saubermachen und so ...“

Während sie noch Blödsinn redete, stieg mir plötzlich der Duft trauten Familienglücks in die Nase. Schwach, aber unverkennbar, lang ersehnt und süß, wie der Duft der Blüten des Honigolivenbaums**, der im Herbst auf einmal in der Luft liegt.

„Gut. Dann noch eins: Stehst du morgens gerne auf? Freust du dich auf den Tag? Gehst du abends mit einem guten Gefühl zu Bett?“

„Hmm, lass mich überlegen, also teils, teils. Abends bin ich eher hundemüde ...“

Mein Bruder antwortete ganz ernsthaft, wie bei einem Persönlichkeitstest.

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„Stell dir vor, ein Freund von dir kommt auf der Straße auf dich zu. Freust du dich? Oder ist es dir lästig? Dringt die Landschaft oder die Umgebung, in der du dich gerade befindest, zu dir vor, nimmst du sie wirklich wahr? Wie steht es mit Musik? Denk mal an einen Ort im Ausland. Brennst du darauf, hinzufahren? Oder wäre dir das zu viel?“

Mutter klang routiniert, als würde sie das Programm tagtäglich vor vollem Haus auf der Bühne durchziehen, sie stellte ihre Fragen geübt wie die Stimme auf einem Meditationsband. Ich war ein wenig überrascht. Eine sonderbare Situation. Wenn man die Augen schloss, meinte man, das unbekannte Land oder den Freund tatsächlich auf sich zukommen zu sehen, so frisch und voll klang ihre Stimme.

Wir alle dachten ernsthaft über ihre Fragen nach.

„Freust du dich auf morgen? Und auf übermorgen? Wie steht's mit der Zukunft? Klopft dein Herz vor Erwartung? Oder bist du mutlos und melancholisch? Und jetzt? Läuft gerade alles gut? Gefällst du dir?“

„Scheint alles okay zu sein im Moment“, antwortete mein Bruder.

Bei mir war es so la la.

„Na ja, so la la“, meinte auch Junko. „Aber verrat uns doch erst mal, was das soll – hast du das in irgendeinem Buch aufgeschnappt, Yukiko?“

„Tja, das ...“, begann Mutter, sah meinen Bruder mit ihren großen Augen an und lachte. „Das ist die Checkliste der Geheimnisse des Lebens, die ich von meinem Opa gelernt habe!“

„Was – der Uropa soll diesen Begriff verwendet haben? 'Checkliste'?“ fragte ich erstaunt.

„Nein, nein“, sagte Mutter. „Er hat es natürlich anders genannt: geheime Überlieferungen. Du musst ihn doch noch gekannt haben, oder? Wir hatten bei uns zu Hause auf dem Dorf eine Zuckerbäckerei, weißt du noch, für traditionelle japanische Süßigkeiten? Großvater hat wie verrückt gearbeitet und Tag und Nacht Zuckerwerk fabriziert, das so gut war, daß die Leute ständig Schlange standen vor dem Laden! Manche kamen sogar extra aus dem Norden angereist, um bei uns einzukaufen. Er war ein fröhlicher Mensch, der es irgendwie schaffte, die Leute um ihn herum mit seiner guten Laune anzustecken. Er war einfach bezaubernd, hat seine Frau, seine Kinder und seine Enkel geliebt und mit neunzig noch gearbeitet, ohne eine Spur von Verkalkung, bis er mit fünfundneunzig friedlich eingeschlafen ist. Dieser fabelhafte Mensch also hat uns das beigebracht, als wie klein waren, meine Geschwister und ich. Wenn wir groß wären, sollten wir es an unsere Kinder weitergeben, hat er gesagt. Aber er hat uns auch gewarnt: Es hätte alles keinen Sinn, wenn wir dabei eine Sache nicht beachteten ...“

„Und die wäre?“ fragte mein Bruder und hing an ihren Lippen.

„Seht mir in die Augen, seht mich ganz genau an, wenn ich erzähle, hat Großvater gesagt. Merkt euch gut, wie ich spreche, meine Stimme, die Atmosphäre im Zimmer, denn falls ihr, wenn ihr diese Geheimnisse irgendwann einmal an einen lieben Menschen weitergebt, auch nur eine Winzigkeit weniger Selbstvertrauen in den Augen und der Stimme haben solltet, wenn die Stimmung im Zimmer auch nur einen Deut kälter und befremdlicher sein sollte als jetzt, dann hättet ihr besser geschwiegen. Was ihr überliefern sollt, sind nicht bloß die Geschichten. Wichtig ist, dass ihr den Zustand meiner Seele als Ganzes, so wie er jetzt ist, vermitteln könnt. Ihr dürft nur dann sprechen, wenn ihr euch genauso oder sogar noch besser fühlt. - Ja das hat er gesagt. Ich habe alles genau beobachtet. Die ganze Familie war versammelt: Großvater, Großmutter, meine Eltern, ich, meine ältere Schwester und die zwei kleinen Brüder. Es hat sich angefühlt, als wäre das ganze Zimmer voller Energie. Eine helle, warme Kraft. Das Zuckerbäckerhaus hatte schon ein wenig Schlagseite bekommen, aber es ging noch, gefährlich war es noch nicht. Wir hatten es uns nach dem Abendessen alle miteinander gemütlich gemacht. Opa hatte strahlendere Augen und sprach mit vollerer Stimme als sonst. Ich hatte das Gefühl, egal, was passiert, wenn er da ist, ist alles in Ordnung. Ich nahm mir fest vor, mir alles gut zu merken. Die ganze Stimmung, alles. Es wird nicht auf die einzelnen Worte und die Reihenfolge ankommen, hab ich mir gesagt, sondern darauf, die Frische zu bewahren. Ich weiß noch, wie ich mich bemüht habe, nicht allzu genau hinzusehen und hinzuhören, nicht übermäßig viel herausziehen zu wollen und es vor allem nicht zu fest in meiner Brust zu verschließen – sonst hätte ich womöglich alles vergessen. Deshalb ist es mir auch eingefallen. Soll ich wirklich, hab ich gedacht, und es einfach einmal versucht. Ich weiß zwar nicht, ob es mir hundertprozentig gelungen ist, aber ich denke, es war schon einigermaßen in Ordnung.“

„Kann man sich auch selber befragen – wenn man in Schwierigkeiten steckt, zum Beispiel?“ fragte ich.

„Sicher, aber man darf sich auf keinen Fall selbst belügen. Man kann ja auch mit 'Nein', 'Es läuft überhaupt nicht' oder 'Es ist mir lästig' antworten. Man muss nur jeden Abend vor dem Einschlafen die Augen schließen und sich wirklich ehrlich fragen. Auch wenn die Reihe schlechter Tage nicht enden will, man macht einfach weiter, bis der unspektakuläre Mut, den man dazu braucht, ein gewisses Gleichgewicht herzustellen, beginnt. Es funktioniert wie eine Religion, aber vielleicht braucht man ja zum Leben wenigstens eine Sache in diese Richtung“, sagte Mutter. „Und die Fragerei alleine macht auch nicht alles gut. Wenn man sich dadurch in Sicherheit wiegt, merkt man bestimmt irgendwann nicht mehr, wie tief man insgesamt gesunken ist. Es nützt ja nichts, mit finsterer Stimme immer 'alles in Ordnung, alles in Ordnung' vor sich herzubeten. Man wird sich letztlich nicht selbst belügen können. Aber wir waren vier Geschwister zu Hause, und obwohl wir uns durchaus mit Scheidungen, Offenbarungseiden und so weiter herumgeschlagen haben, stehen alle vier nach wie vor mit beiden Beinen im Leben – vielleicht deswegen, vielleicht liegt es an dem, was uns Großvater und Großmutter beigebracht haben.“

„Eine wunderbare Geschichte!“ sagte Junko.

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Wie bei den Indianern, dachte ich: Familiengeheimnisse, die der Großvater von noch älteren Vorfahren übernommen hat und seinen Kindern und Kindeskindern überliefert, und die Enkel geben sie wieder an die eigenen Kinder weiter, und so fort. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass es so was auch bei uns zu Hause geben könnte! Und doch war mir, als existierte das in unserem Fall nicht erst durch die Geschichte, die ich gerade gehört hatte, sondern wäre schon immer über die Atmosphäre gelaufen, die Mutter mit ihrem ganzen Sein vermittelte.

*Großes Nobelkaufhaus in Shinjuku, Tokyo ** Osmanthus fragans var. Aurantiacus (japan.: kin-mokusei): immergrüne, im Spätherbst blühende Art der Ölbaumgewächse (Oleaceae) mit goldenen, stark süßlich duftenden Blüten (A. d. Ü.)

Banana Yoshimoto AMRITA aus dem Japanischen von Annelie Ortmanns