Lautlos geborgen und im Schutz meiner Hände

Wir schwimmen im See. Das ist schön, aber auch kalt.

Die Jungs haben eine Flasche Shampoo dabei, und sich nach so langer Zeit mal wieder einzuseifen fühlt sich an wie gelöschter Durst. Danach legt der Blonde mir neue Sachen raus. Der ganze Lada ist hinten mit Zeug vollgeladen, und ich kann mir was aussuchen. Am besten gefällt mir eine glänzige Adidas-Trainingshose in Braun, und dazu passt ein knallenges T-Shirt mit der Aufschrift Heimat. Lockerheit. Österreich. Findet der Blonde auch.

In der Nacht liege ich auf zwei Decken. Die Jungs haben Luftmatratzen. Sie tuscheln ganz kurz. Dann sind sie eingeschlafen. Ich höre ihren gleichmäßigen Atem ein paar Meter entfernt von mir. Ich sehe die Sterne zwischen den Bäumen und über den Bergen. Nach ein paar Stunden raschelt am Ufer ein Tier. Es gräbt, hört auf zu graben und gräbt wieder. Ich stehe auf und gehe um den See herum. Meine Gelenke knacken. Niemand hört mich. Meine dreckigen Sachen liegen am Ufer.

Von der Staustufe sehe ich zwischen den Bäumen ins Tal hinunter, in dem ein dünnes Lichtgesprenkel die Lage eines Dorfes verrät. Zwei trichterförmige Strahlen wandern durch die Finsternis und erlöschen vor dem Dorf. Das Klicken von Autotüren.

Ich gehe zurück zu den Jungs. Ich gehe um sie herum. Ich sehe auf sie hinab. Der Russe bewegt sich einmal, sonst liegen sie lautlos da. Ich stehe über ihren Köpfen, höre ihren Atem und atme wie sie. Zuerst beuge ich mich zum Russen hinunter, dann hocke ich mich vor den Blonden. Meine Knie berühren fast seinen Kopf. So bleibe ich lange und sehe ihn an. Sein Gesicht ist nachtbleich und friedlich und säuglingshaft, fast wie ein Mädchen sieht er aus. Ich mache magische Bewegungen, ich halte meine Hände über seine Stirn, über die Schläfen, über die geschlossenen Augen mit den langen Wimpern. Ich spüre seine Körperwärme in meinen Handflächen. Er spürt es nicht. Lautlos geborgen und im Schutz meiner Hände und der schirmenden Nacht liegt er da.

Ich esse die letzten Haribo, die braunschwarzbraunen Lakritzen, die mag ich am liebsten.

Sie fahren, ich schlafe, sie schlafen, sie fahren. Wir schlafen. Wir fahren über den Berg. Wir verabreden, uns in fünfzig Jahren wiederzutreffen. Ich bin einverstanden. Ich find's gut, aber ich glaube nicht daran. Entweder man sieht sich vorher oder nie. Also wahrscheinlich nie.

Wolfgang Herrndorf: "BILDER deiner großen LIEBE"  (ein unvollendeter Roman)